The Other Side Of The Wind - Michel Legrand und Orson Welles verabschieden sich

von Alan Lomax Rick Deckard Blog  -  16. März 2019, 16:38  -  #Orchestrale Musik

The Other Side Of The Wind - Michel Legrand und Orson Welles verabschieden sich

Zwei Legenden verabschieden sich.

Orson Welles.

Mastermind. Exzellenter Schauspieler und brillanter Regisseur. Lomax und ich machten erste Bekanntschaft mit ihm in Carol Reeds fantastisch inszeniertem Klassiker Der Dritte Mann. Der Moment, in dem ein Auto im Nachkriegs Wien durch dunkle Gassen fährt und die Scheinwerfer kurz ihr Licht auf den in einer Ecke stehenden Welles werfen: Ein Moment für die Ewigkeit!

NETFLIX hat den letzten und unvollendeten Film des Genies THE OTHER SIDE OF THE WIND fertiggestellt. Es handelt sich um einen Experimentalfilm, eine Mockumentary, einen Film im Film, der den Versuch einer fiktiven Regielegende, gespielt von John Huston, zeigt, wieder an alte Glanzzeiten anzuknüpfen. Welles sei zu dem Film nach dem Tod von Ernest Hemingway inspiriert worden. Zeitgleich mit der Aufnahme des Films in das Programm hat NETFLIX auch einen Dokumentarfilm ins Netz gestellt, der die Entstehungsgeschichte des Filmes beleuchtet: THEY'LL LOVE ME WHEN I'M DEAD.

Glaubt man den Besprechungen im World Wide Web, so wird dem Zuschauer einiges zugemutet, durch hektische Schnitte und eine sprunghafte Aneinanderreihung von Szenen. John Huston zur Seite stehen Peter Bogdanovich, Dennis Hopper, Cameron Mitchell, der legendäre Edmond O' Brien und Lilli Palmer.

Michel Legrand.

Der vor kurzem verstorbene Musiker lieferte mit der Komposition zu dem letzten Film von Welles zeitgleich seine letzte Filmmusik ab. In den Notizen des Regisseurs soll sich der Eintrag befunden haben:"Call Legrand for the music." 2018 wurde Legrand von den Produzenten des Films mit der musikalischen Untermalung der Bilder beauftragt. Das Label La La Land hat 2018 mit 16 Titeln die Musik auf CD veröffentlicht.

The Other Side Of The Wind - Michel Legrand und Orson Welles verabschieden sich

Was für ein Abschied des großen Komponisten!

Als Hörer von Filmmusik ist es immer ein besonderer Moment, die CD aus der Verpackung zu befreien, den kleinen Silberling in den Player zu legen und gespannt auf die ersten Töne zu warten. Es ist immer wieder ein Erlebnis. In den ersten Sekunden und Minuten folgt eine qualitative Bestandsaufnahme und Analyse: Binnen weniger Sekunden wird die Musik einem Raster durchzogen. Man geht der Frage nach, ob die Musik es im ersten Hörgang bis zum Ende schaffen wird.

Nach 73 euphorisch stimmenden Minuten holte ich die Scheibe aus dem Player.

Michel Legrand hat uns mit dem Score zu dem Welles Film eine herrliche, schöne, melodische und aufregende Filmmusik hinterlassen. Die 16 Titel sind in Chapter 1 bis 26 unterteilt. Bereits in den ersten Takten des "Chapter 1" wird klar: Das wird ein grossartiges Hörerlebnis.

​​​​​​​Legrand fusioniert zwei Stile: Klassik und Jazz.

Die beiden Musikrichtungen gehen im Laufe der einzelnen Stücke eine leidenschaftliche Beziehung miteinander ein, ohne ihre Einzigartigkeit zu verlieren. Legrand lehnt sich einerseits dem Barock an, dem Prinzip der Fuge und dem Jazz andererseits, mit Augenmerk auf den Swing und zeitweise auch Bebop. Die Mischung unterschiedlicher historischer Epochen und Musikstile gelingt ihm fabelhaft und kumuliert im Track 8 "Chapter 21" mit dem Untertitel "Piano Duet I". Faszinierend zu hören, wie sich die Stile, die von zwei Klavieren solo dargeboten werden, abwechseln, einander die Hand reichen und sich voneinander lösen. Man meint sogar eine Referenz an Johann Sebastian Bach und die Goldberg Variationen zu hören.

Die Musik wird von einem Streicher-Ensemble, einem Jazz Quartett (Klavier, Trompete, Bass und Schlagzeug) und einer Big Band interpretiert. Das Timing, mit dem Legrand beiden Stilen abwechselnd die Möglichkeit gibt sich zu präsentieren, ist beachtenswert, vermutlich hat er sich von den Schnitten und Bildern des Films leiten lassen. Legrand erläutert im Booklet in einem Mini-Interview, dass ihn genau das fasziniert und gereizt hat: Swing - Jazz - Einflüsse der zweiten Wiener Schule miteinander zu kombinieren. Das gelingt ihm prächtig und herausgekommen ist eine hoch unterhaltsame und sehr abwechslungsreiche Musik, die mit einem 15 minütigen Stück, einem Bolero endet.

Ein grandioser Abschied.

Au revoir Monsieur Legrand!

Goodbye Mr. Welles!

 

From this side of the speaker,

Rick Deckard

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