SNOWDEN - Oliver Stone
Der Tiger hat seine Krallen verloren. Nichtsdestotrotz hat er noch ein scharfes Maul, welches Respekt einflösst.
Der mittlerweile 70-jährige Oliver Stone hat mit SNOWDEN ein nicht lange zurückliegendes Ereignis der jüngeren amerikanischen und auch Weltgeschichte mit Joseph Gordon-Levitt in der Hauptrolle verfilmt. Im Gegensatz zu früheren Werken des Regisseurs fehlt dem aktuellen Film die unvergleichliche Wut, die radikale Subjektivität und das anklagende Element, allesamt Eigenschaften, die die meisten Filme eines Oliver Stone unvergleichlich und ihn zu einem der überragenden Regisseure der vergangenen Jahrzehnte machten.
Das ist nicht als Kritik zu verstehen, sondern, so denke ich, das Ergebnis einer Milde, so wie sie naturgemäß zu erwarten ist. Auch dem besten und schnellsten Langstreckenläufer geht irgendwann die Puste aus. Trotzdem beobachtet man einen solchen Läufer gerne, bewundert seine Ausdauer, Zielstrebigkeit und Eleganz.
In SNOWDEN lässt Stone die Ereignisse zu Beginn dieses Jahrtausends Revue passieren, die jedem, der Nachrichten verfolgt, mittlerweile im Zusammenhang mit diesem Namen bekannt sein sollten. In Rückblenden erläutert der sich in Hong Kong in einem Hotel aufhaltende Snowden einer Dokumentarfilmerin und zwei Journalisten des britischen Guardian seine Beweggründe für die weltweite Offenlegung seiner Arbeit für diverse Geheimdienste.
Stone geht das Thema klassisch an und zeigt entscheidende Etappen in der Vita des zukünftigen Enthüllers. Nach und nach erschliessen sich die Motive. Das grösste Plus an dem Film hierbei ist, dass Edward Snowden als zwiespältiger Charakter präsentiert wird, der einerseits fasziniert ist von dem was er tut, auf der anderen Seite aber über das Ausmaß der Überwachung erschrocken ist und dieses Dilemma lange nicht mit seinen moralischen Prinzipien vereinbaren kann. Ein weiteres Plus ist, dass sich dieses Dilemma, auch in Zeiten der Bedrohungen von aussen, auf den Zuschauer überträgt: Wie würdest Du handeln? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten, aber einer Überlegung wert.
In vielen, teils sehr guten Dialogen, kommen diese Probleme mit seiner (liberalen) Freundin zur Sprache und werden auf diese Weise für den Betrachter verständlich. Zu Beginn heisst es, dass es sich um die "Dramatisierung realer Ereignisse" handelt. Insofern ist es schwer einzuordnen, wie viel wahr und wie viel erfunden ist, die Umschreibung "gelogen" sollte man vermeiden. Stone, und das ist eine seiner herausragenden Eigenschaften als Regisseur und Künstler, polarisiert und lädt bewusst dazu ein Stellung zu beziehen, doch es ist wie immer auch Vorsicht geboten, bei dem was bei ihm zu sehen ist. Er ist auch ein perfider Manipulator!
Technisch ist SNOWDEN sehr gut gemacht und zeigt die ganze Professionalität dieses einzigartigen Regisseurs. Der Film ist hervorragend fotografiert, bietet bei aller Dialoglastigkeit viele Schauwerte und auch Elemente eines Thrillers. Die schauspielerischen Leistungen sind, wie stets bei Oliver Stone, über Durchschnitt und überzeugend, sowohl, was die Titelrolle betrifft, als auch die diversen Nebendarsteller über Nicolas Cage bis hin zu dem beeindruckenden Rhys Ifans, der einen hochrangigen CIA-Beamten mit Eiseskälte und maliziöser Berechnung famos verkörpert.
Seit 1986 hat Oliver Stone keinen einzigen (!) schlechten Film gedreht, das ist ein bravouröse Leistung. Er ist ein politisch ambitionierter Regisseur und steht in einer ganz grossen Tradition, der er Würde verliehen hat.
Wenn auch SNOWDEN vereinzelt einige Längen bietet, so überzeugt er am Ende doch und das aus einem einzigen Grund:
Es ist der Mut, den Edward Snowden bewiesen hat. Es gehört unglaublich viel Furchtlosigkeit und Tapferkeit, um so etwas zu tun.
Ob es richtig war, was er getan hat und wie man es zu bewerten hat, das gilt es zu diskutieren und hier liegt der elementare Kern im filmischen Oeuvre dieses Meisterregisseurs.
Sehenswert, trotz fehlender Krallen, weil mit Biss inszeniert!
Aus Hawai,
Rick Deckard