WEEK-END #6 KÖLN - Mein #1 - Teil I: Stromschläge aus dem Vocoder
Es beschleicht mich jedes Mal ein merkwürdiges, schwer zu beschreibendes Gefühl, wenn ich den Rhein überquere und „auf der anderen Seite“ bin. Diese andere Seite gleicht einer surrealen Parallelwelt: Ist man noch in Köln, oder in einer anderen Stadt? Die Fahrt mit dem Taxi über die Brücke glich einer Fahrt ins Ungewisse und Unbekannte.
Die Stadthalle beruhigte mich: Ein schöner, schlichter, großer, symmetrischer und transparenter Bau in warmen Innenfarben. Schön, die Welt hat eine wiedererkennbare Ordnung! Als Mensch mit einigen konservativen Werten fühlte ich mich gut aufgehoben. Eine Garderobe. Eine grosse Innenhalle. Eine ausreichend sortierte und angenehm beleuchtete Bar.
Das wird ein guter Abend.
Als ich ankam, spielte in der Halle (mit übrigens wunderbarer Retro-Deckenbeleuchtung) eine Band mit einer Sängerin in einem glitzernden Paillettenkleid, begleitet von 2 weiteren Damen, eine am Bass und die andere an der Gitarre und einem drittklassig gekleideten Keyboarder, der während der Nummern einige merkwürdige und z.T. ungelenk wirkende Bewegungen vollführte: Ein Hingucker. Eine Mischung aus Jesus (<- bitte englisch aussprechen) und einem Undercover-Cop aus Miami. Mit der Musik konnte ich überhaupt nichts anfangen, die meisten der Anwesenden aber wohl. Die Band stieß auf Resonanz. Für mich war es Lärm und Geschrei.
Da ich unsicher war, wie ich mich verhalten sollte, lehnte ich mich an die Wand und bemühte eine extrem schlecht gespielte Lässigkeit. Ich beobachtete die anwesenden Zuhörer. Der gefühlte, aber wissenschaftlich-statistisch nicht nachgewiesene, Alters-durchschnitt lag bei 45 Jahren. Ich wusste nicht so recht, ob mir das miss- oder gefiel. Sich selbst und seinesgleichen zu sehen kann ein Gefühl der Konformität vermitteln, aber auch langweilen. Kontraste sind mir dann doch lieber.
Zwischendurch lief ein Mann mit einem Hund, der ein grün leuchtendes Halsband um den Hals trug, durch den Saal. Wieso dürfen hier Hunde rein? Später teilte mir jemand mit, dass das der Veranstalter des Abends gewesen sei und er für die Stadt Köln und der in ihr gespielten Musik eine grosse Bedeutung habe. Der darf das natürlich.
Wenn ich den Namen L a m b c h o p höre, dann bekomme ich jedes Mal Hunger und jedes Mal läuft es in meinem Kopf ab: Das wunderschöne Intro aus THE DAILY GROWL von dem Album „Is A Woman“, das ich nach wie vor für das beste Album der Band um Mr. Kurt Wagner (KW) halte.
F L O T U S, das neue Album der Band, wurde von KW „alleine“ dargeboten. Alleine und mit ortsansässigen Musikern exklusiv für das Weekend #6 in einer alternativen (!) Version. Wagner goes Electro. Electro goes Wagner trifft es eher. Gut, dass ich ohne eine Erwartungshaltung zum Konzert gegangen bin. Erwartungen enttäuschen fast immer, weil sie meistens falsch und überzogen sind und ohnehin so gut wie nie erfüllt werden.
Als KW das erste Stück gespielte hatte, ging er rückwärts, drehte sich, stolperte und flog der Länge nach hin. Ein Raunen ging durch die Menge und eine kurzzeitige Stille. KW machte sich einen Spaß aus der Peinlichkeit (die jedem von uns mindestens einmal im Leben passiert ist), blieb kurz liegen, lachte, stand auf, erhielt Applaus (was für ein Quatsch!) und spielte weiter. „Is everything OK?“ brüllte jemand rechts von mir.
Ja!, signalisierte er.
Ein Beginn mit Schrecken, das aber in zweierlei Hinsicht: Was zum Teufel machte KW da? Nichts gegen neues, nichts gegen experimentelles, aber das?! Es klang grausam, ich will höflich sein: Ungewohnt. Ha! Ertappt. Da hatten sie sich klammheimlich durch die Hintertür eingeschlichen, die Erwartungen.
Erstmal raus und frische Luft schnappen.
Wieder in der Halle dachte ich mir: Geh nach vorne in die erste Reihe und sei einem deiner Helden ganz nah. Da stand ich nun, seitlich der Speerspitze geformt aus Independent-Musik-Hörern, ganz weit vorne. Interessant. Als „ungeübter“ Konzertbesucher machte ich eine Entdeckung, die mir zusagte und damit auch die Musik. Die Verbindung aus Nähe und besserer Optik veränderte den Klang und die Wirkung der Musik. Benutze alle Deine Sinne!
KW drehte durch. Die Beats und Bässe wuchteten durch meinen Körper und seine tiefe, stets nuschelnde Stimme wurde durch einen Vocoder verfremdet. Exzellent. Die Stücke nahmen an Fahrt auf, das Publikum spürte die Dynamik. Mit ständig wechselnden Musikern und Instrumenten verliehen die Künstler F L O T U S klanglich eine vollkommen andere Farbpalette. Natürlich hatte ich mich, um eine gewisse Kontrolle bei all der Freizügigkeit zu behalten, vorbereitet und das ganze Album vorher auf einer Streaming Plattform gehört. Nur zur Beruhigung: Alle anderen Scheiben besitze ich als Hardware.
Der Mastermind von Lambchop in Trance: Das waren zum Teil Anblicke, die extrem peinlich (für mich) waren, gepaart mit einem Höchstmaß an Leidenschaft seitens des Künstlers. Dass populäre (im Sinne der Kulturgattung) Musiker sich zu ekstatischen körperlichen Verzückungen hinreißen lassen, ist wahrlich nichts neues, dass dies aber in Kombination mit nur einem linken Zeigefinger geschieht, der ein elektronisches Gerät bedient: Das war neu. Es sah zeitweilig so aus, als ob KW an einer Steckdose hängend Stromschläge erhalten würde.
Er wurde dadurch nur noch sympathischer. Ein Mann, der für seine Leidenschaft lebt. Insbesondere nach diesem Auftritt beim Weekend #6 ist er auf dem Weg zu lebenden Legende:
KURT WAGNER.
Grandioser Auftritt.
Teil II zum WEEK-END #6 folgt in Kürze mit dem Titel: ICH LIEF AUCH MAL SO RUM - WAR ICH AUCH HIP HOP?
Rick Deckard