Dieter Ilg - Mein Beethoven (mit Rainer Böhm und Patrice Héral)
Ich möchte versuchen, mich diesem Album analytisch zu nähern, weil es meines Erachtens förmlich (!) danach schreit.
Aufmerksam wurde ich darauf durch das Cover und seine Gestaltung. Ich mag es nicht, aber es ist so effektiv gestaltet, dass es den Blick anzieht. Das liegt an dieser merkwürdig aussehenden und bunt bemalten Büste und dem in blau geschriebenen Titel auf weissem Hintergrund. Man weiss, das Menschen Texte besser wahrnehmen und lesen, wenn sie in blau auf weissem Hintergrund geschrieben werden.
Bleiben wir bei dem Titel: "Mein Beethoven".
Seitens der Logik ist eine solche Wahl interessant. Man könnte den Titel zunächst einfach so stehen lassen, denn er steht für sich alleine. Es ist die höchst subjektive Interpretation der Musik eines Ludwig van Beethoven durch den Jazzmusiker und Bassisten Dieter Ilg. Was aber unsichtbar ist und was der Titel einem suggeriert ist unbewusst folgendes: "Möchtest Du ihn hören?" oder "Ist es auch Dein Beethoven?".
Das ist das spannende an der Einladung zu Beginn.
Was passiert hier?
Dieter Ilg, sein Pianist und sein Schlagzeuger bedienen sich der Musik eines Ludwig van Beethoven. Selektiv entnehmen sie seinem Oeuvre bestimmte Stücke und interpretieren diese mit den Mitteln des Jazz. Analytisch gesehen wird eine musikalische Form in eine andere verwandelt.
Wie kann man sich das vorstellen?
Stellen Sie sich vor, ein Architekt der Moderne nimmt ein Gebäude, sagen wir beispielsweise aus dem Barock, und setzt es nach seinen Vorstellungen und den Prinzipien der modernen Architektur neu zusammen. Das bedeutet er verändert die Bausubstanz nicht, aber die Form.
Wie wirkt das?
Vermutlich würde man davorstehen und sagen: Das sieht aber merkwürdig aus, das kenne ich so gar nicht, aber er erinnert mich an ... .
Und genau das passiert hier auch: Beim Hören von "Mein Beethoven" kommen Erinnerungen hoch ans Tageslicht und diese Erinnerungen an die Musik vergangener Zeiten anders heraufzubeschwören, ist vermutlich die Intention des Künstlers. Man ist verwundert, aber auch fasziniert zugleich.
Ob es einem gefällt oder nicht, das möge ein jeder für sich entscheiden, denn es ist "sein" Beethoven, der von Ilg. Meiner oder ihrer mag anders klingen. Das ist nicht der Punkt. Entscheidend ist, dass eine Brücke aus der Vergangenheit in die Zukunft geschlagen wird. Es wird die Erinnerung an einen der grössten Musiker und Komponisten aller Zeiten wach gerufen. Neue Zuhörer werden für den Jazz gewonnen und im Wechselspiel begeistern sich vielleicht auch umgekehrt Menschen für die Klassik.
Wie klingt wohl das Original?
Dieter Ilg regt an, er erfindet nicht neu, aber er kreiert neues aus bekanntem, er begeistert auf diese Weise gleich für zwei Musikgattungen.
Improvisation, Synkopierung, Phrasierung.
Wie wirken sich diese Bausteine des Jazz aus, wenn sie angewendet werden auf die Klassik, auf die Melodien eines Beethoven?
Hören Sie genau hin, es lohnt sich!
Am Ende bleibt es seiner, aber ich habe ihn gerne gehört.
Wunderschönes Album!
Dick Reckard