SEMIOSE
Eigentlich sollte ich an meinem Buch weiterschreiben. Es sind noch wenige Kapitel, bevor es ins erste Lektorat geht.
Eigentlich sollte ich freie Zeit nutzen die mein Beruf mitbringt und mich derzeit zu längeren Aufenthalten in anderen Städten zwingt.
Eigentlich könnte ich dann Stätten besichtigen, ins Kino gehen, mich mit Bekannten und Freunden treffen, feiern gehen, Zeit nutzen.
Eigentlich mag ich Berlin nicht. Die Stadt ist groß, angeberisch, laut, voll und es gibt viel zu viel von allem.
Eigentlich mag ich Hotels und Menschen die dort aus unterschiedlichen Gründen zusammentreffen.
Und gewissermassen sind mir Bilder, Momente, Geräusche lieb, die mir vertraut sind und die dem Augenblick folgen.
In Sofia Coppolas grandiosen Meisterwerk MARIE ANTOINETTE (2006) erzählt die Regisseurin die Geschichte der gleichnamigen Königin die am Hof von Versailles ihre Jugend verliert.
Lassen wir mal die Sicht von Sofia Coppola auf Mädchen die an der Schwelle zum Frausein stehen bei Seite, bringen aber doch noch ihr nächstes Meisterwerk LOST IN TRANSLATION mit ins Spiel (2003). Wir lernen Bob (Bill Murray) und Charlotte (Scarlett Johansson) kennen. Die beide aus unterschiedlichen Gründen in einem Hotelkomplex in Tokio verbringen müssen. Sie befinden sich in einem Vakuum. Schauen sie aus dem Fenster, gehen sie auf die Straßen, sind sie betäubt. Kaum jemand hat diese Reizüberflutung, die Hektik der Großstadt und die Anonymität je besser dargestellt und erzählerisch in Einklang mit einer recht unspektakulären Geschichte gebracht, wie die Coppola.
In MARIE ANTOINETTE gibt es vergleichbare Bilder, Momente. Aber insbesondere laufen beide Filme in dieser seltsamen Geschwindigkeit ab, die ich nur mit der musikalischen Genrebezeichnung Shoegazing bezeichnen kann und dem Adjektiv schwelgerisch.
Und ich finde es in diesem Zusammenhang fast beklemmend, aber auch atemberaubend, wie sich Kreise schließen und Sofia Coppola es zu all’ dem geschafft hat, zu verstehen, dass sie die Musik von Kevin Shields für LOST IN TRANSLATION und hauptsächlich die Musik von The Radio Dept. für MARIE ANTOINETTE gefunden und gewählt hat.
Die Kamera ist in solchen Filme eine Waffe für Menschen wie mich. Ich werde diese Bilder einfach nicht mehr los. Was andere als oberflächlich beschreiben ist für mich die komplette Offenbarung. Und Kritiker die beide Filme als inhaltslose Teenagerblase abtun, weil sie die Schönheit der Komplexität nicht erkennen können ist für mich gleitender und ziellose wunderbare Kunst.
Kollege Rick Deckard hat bereits häufiger über seine Eindrücke und Erlebnisse bei Städteaufenthalte während einer beruflichen Aufgabe geschrieben. Er ist ein glänzender Beobachter, aber auch ein Realist und Analyst. Er sieht Menschen, Begebenheit, beschreibt sie fulminant, stellt sich Fragen.
Mein Habitus ist etwas anders. Denn im Prinzip bin ich ein Träumer und laufe ich durch eine fremde Stadt oder beobachte ich Leute, neige ich ehr beim beobachten zum Schwelgen als zum referenzieren. Eine Situation oder Sicht auf Dinge, muss für mich daher nicht immer direkt erklärend sein und ich finde es z. B. auch interessanter einen Tumult auf der Straße zu beobachten, ohne zu wissen worum es geht. Eine Erklärung muss nicht immer sofort da sein, muss gar nicht kommen.
Ich stehe auf der 40. Etage des Park Inn Hotels am Alexanderplatz in Berlin. Es ist sehr warm, obwohl es Ende September ist. Außer mir und einem jüngeren Mädchen mit Hut und Sonnenbrille, ist niemand hier oben! Aus meinem Kopfhörern ertönt zum erneuten Mal an diesem Tag PULLING OUR WEIGHT der schwedischen Band THE RADIO DEPT. Ich mache ein paar Fotos, plötzlich steht die Dame mit Hut neben mir! Wir kommen ins Gespräch, wir sind uns sympathisch. Trotz des sichtbaren Altersunterschiedes gibt es gemeinsame Interesse. Wir sprechen über Berlin, über Australien wo sie her kommt, ich erwähne das ich mich wie in dem Film LOST IN TRANSLATION fühle und das ich in diesem Hotel und in meinem Zimmer auf der 35. Etage sterben könne und es wahrscheinlich niemand in den nächsten 2 Wochen merken würde. Sie kennt den Film, wir lachen, sprechen über Sofia Coppola. Die Zeit vergeht, die Sonne geht unter, es wäre Zeit zu gehen. Über Bob und Charlotte sprechen wir nicht. Diesen Automatismus wollen wir beide nicht starten. Den Lesevorschlag aber haben wir verstanden.
Ich verabschiede mich. Sie sagt, dass es nett war sich mit mir zu unterhalten und dass man sich ja vielleicht am nächsten Tag wieder hier treffen könne! Bedeutungsbildung.
Den nächsten Tag sitze sich bereits im Auto nach Hause. Und ich denke über diese Begegnung nach:
Ich denke aber auch über die Band PHOENIX nach, die ich zu meinen Lieblingsband zähle und die in einem weiteren Zusammenhang zu dieser merkwürdigen Geschichte hier steht. Denn als PHOENIX vor vielen Jahren in Haldern gespielt hatten, stand neben mir ein Mädchen in gepunkteten Regenstifeln. Es war Sofia Coppola die gerade mit Thomas Mars dem Sänger von Phoenix zusammengekommen ist und die Band durch Europa begleitet hat.
Ich denke darüber nach, dass ich die ganze Woche nur Menschen getroffen habe, die nichts das machen, was sie machen wollen. Egal, ob Kellner, Hotelangestellte, amerikanische oder japanische Touristen, Reisende oder andere. Egal, ob im Urlaub, während der Arbeit oder in der Freizeit. Ob beim Essen, beim Trinken in der Bar, beim im Café in der Sonne sitzen, angenehmen oder unangenehmen Sachen. Man bekommt den Eindruck, dass keiner glücklich ist und jeder nur dem unangenehmen nachgeht. Es ist ein Alptraum, keine persönliche Depression.
Denn ich staune nur und ziehe meine Wiege hinter mir her!
Neben all’ der Zeit die ich in der letzten Woche bei meinem Besuch in Berlin hatte, habe ich aber auch eine interessante Lektüre gelesen. In dieser verwendet Aleida Assmann (1988) die Begrifflichkeit „Wilde Semiose“.
Damit wird beschrieben, dass wir mit Texten zwei Dinge tun können: Wir können ihn lesen, d. h. vom materiellen Signifikanten gelangen, ohne uns lange beim Materiellen aufzuhalten. Es kann uns aber auch geschehen, dass wir starren (GAZING) oder -anders gesagt, dass wir mit einem lange verweilenden Blick an der Materialität des Textes, an seiner Form, also, haften bleiben und stutzen, zögern, innehalten. Das geschieht, wenn uns etwas Unerwartetes begegnet.
Der lange Blick führt zum Neu-Hinsehen, zur Verfremdung.
In Ihrer Filmkritik zu LOST IN TRANSLATION verwendet die TAZ Autorin Cristina Nord ebenfalls den Begriff „wilde Semiose“ und adaptiert diese stilistische Bezeichnung für den Film und bezeichnet es als sowas wie eine Lesevorschlag fürs Kino.
„Wenn man etwas Schönes schätzen lernt und zugleich weiß, dass es nicht dauern wird, stimmt das traurig. Es schafft aber auch Freude, weil man das kurze Leben einer Sache wertschätzt. Ich mag diese Art der Melancholie, wie wenn man verliebt ist und es schrecklich und großartigen in einem ist.“
Alan Lomax
Referenzen
The Radio Dept. - Pulling Our Weight EP (2003)
Various Artists Soundtrack - Lost in Translation (2004)
Phoenix - Alphabetical (2004)
Lost in Translation - Sofia Coppola (2003)
Marie Antoinette - Sofia Coppola (2006)
An Affair to Remember - Leo McCarey (1957)
Haldern Pop Festival 2005
Stil - ein sprachliches und soziales Phänomen - Beiträge zur Stilistik Ula Fix