Tortoise – The Catastrophist (Bonus Edition Version)

von Alan Lomax Rick Deckard Blog  -  10. Juni 2016, 13:31  -  #Populäre Musik

Tortoise – The Catastrophist (Bonus Edition Version)

In diesen Zeiten der totalen Ignoranz gegenüber Musik, habe ich mir lange überlegt, ob es überhaupt noch sinnvoll ist weitere Plattenbesprechungen zu schreiben. Insbesondere weil ich aufgrund meines Buchprojektes sehr viele alte Musikbesprechungsartikel und Plattenbewertungsreportagen gelesen habe. Dies in alten Spexheften oder Fanzines zu tun ist sehr lustig. Insbesondere wenn man die ganzen Zukunftsvorhersagen von den Hellsehern der Zunft berücksichtigt. Heut zu tage ist das etwas anders geworden. In Zeiten der digitalen Medien verhilft man sich gerne mal mit sehr kurzen informativen Artikeln oder Videobeweisen oder kopierten Texten von Kollegen. 

Es gibt zum Glück noch ein paar gute Musikjournalisten und sicherlich auch ein paar Leser und Interessierte, aber grundsätzlich glaube ich, dass ein Sterben dieser Zunft einsetzt. Vielleicht wird es irgendwann, nach einem digitalen Overkill und dem Bewusstsein, dass eine gut geschriebene Plattenbesprechung durchaus polarisierend, unterhaltsam oder auch beeinflussend sein kann, ein neues Konzept geben, welches die Möglichkeiten von On- und Offline verbindet. Ich finde ja z. B. dass die Rolling Stone Online hier ein gutes Vorbild ist, weil die Applikation gute journalistische Reportagen mit Interviewvideos oder musikalischen Links zum Artikel kombiniert.

Natürlich hat ein möglichst innovatives Konzept auch Nachteile. Wenn man die oft kruden Leserbriefe in unseren geliebten und gehassten Musikmagazinen der letzten Jahre liest, möchte man ja nicht wissen, welcher tatsächliche Shit-Storm ausbricht, wenn man wirklich mal den Verriss A über Band B schreibt. Kein Mensch kann dies ertragen, insbesondere nicht, da man im Prinzip jeden Text auseinander nehmen kann und zwischen jeder Zeile Tod oder Teufel entdecken will. Merkwürdig dabei, dass sowohl bei den Online-Versionen von Intro, ME, Spex, RS etc. die Kommentarfunktion selten genutzt wird? Auf blogs ist das übrigens ähnlich. Ein alt bekanntes Problem. Mich würde mal interessieren, warum sich die Menschen z. B. bei Facebook die verbale Peitsche selbst verordnen bei Artikeln und blog-Einträgen aber selten ein Dialog stattfindet?

In meiner blauen Wolkenwelt, die ich mir oft neu und radikaler vorstellen, natürlich mit bunten Vögeln und ohne Insekten, stellte ich mir so auch kürzlich eine neue Welt vor, die sofort beginnt und in der alle alten Plattenbesprechungen und Querverweise gelöscht worden sind. Ein riesiger Meteorit hat alle Interviews die mit Pop- und Rockstars geführt worden sind einfach vernichtet. Keine Archive mehr, keine Beweise mehr, kein kopieren und nachplappern mehr!

Eine schöne, wenn auch schmerzhafte Vorstellung. Denn Marketing und auch Bands müssten sich vollkommen neu aufstellen, erklären und vermarkten. Denken Sie mal drüber nach…; …man müsste sich nur auf seine Musiksozialisierung konzentrieren und an sein Plattenregal/Hörgewohnheiten denken/beziehen. Ach, und wie das ja oft so ist in der theoretischen Musikpsysik Welt, die Zeiten überlappen….

Bei meinen Besprechungen über das Primavera Festival vor ein paar Tagen, musste ich in Verbindung mit dem glorreichen Auftritt der Chicagoer Band Tortoise das verbotene Wort „Postrock“ verwenden. Nun gibt es das Wort gar nicht mehr. Auch Schubladen wie Elektro, Jazz oder die obskure Idee eines  Musikjournalisten, dass die Musik der neuen Tortoise Platte sich anhört, wie instrumentale HipHop-Musik nur ohne Rap!

Was kann man also sagen zu THE CATASTROPHIST? Zunächst einmal sollte man sich das Cover betrachten. Man sieht quasi ein Spiegelbild seiner selbst. Schönheit ist ja nun mal eine subjektive Angelegenheit und warum muss jemand der eine Kassengestellbrille trägt immer gleich zum Nerd glorifiziert werden? Es gibt solche Leute tatsächlich. Nun, ja der Mund ist etwas schräg und es gibt schönere Menschen, aber schieben Sie mal bei der Special Vinyl Edition Version die bunte Folie rüber: alles wird gut. 

Und vielleicht ist das tatsächlich schon der aktuelle Plan von Tortoise. Genau hin hören, filtern, feiern. Denn THE CATASTROPHIST ist eine abwechslungsreiche, durchaus poppige, überraschende Nachhaltige Scheibe geworden.

Und es gibt tatsächlich unique Themen die sie von sonstiger manchmal doch durchschnittlicher und vergleichbarer, ähnlicher Musik unterscheidet. Und damit meine ich nicht nur das alternative Lager, sondern ganz besonders Schallplatten aus dem Jazzlager. Denn dort gibt es zahlreiche Bands (einige davon hatte ich im letzten Jahr besprochen) die einem gleichen Motiv folgen, aber an ihrer stark akademischen handwerklichen Musikalischen Ausbildung scheitern. Ich meine damit die beiden verstaubten Begriffe Kreativität und freier Geist.

Denn versucht eine moderne Jazzband sich mit elektronischen Geräten oder dem ein oder anderen durchgehenden Beat, wirkt das meist betagt, weil diese Musik nicht versteht aus dem Korsett auszubrechen. Die Fusionierung gelingt einfach nicht. Gelingt es aber einer Band aus dem ehr alternativen Pop-Rock-Lager Jazz zu formulieren oder komplizierte Rhythmusmuster zu entwickeln ist das meist aufregender und weniger behäbig, weil es weniger anstrengend wirkt. So zumindest meine Wahrnehmung

Tortoise haben sich im Laufe der Jahre ein beeindruckendes Handwerk angeeignet. Da wird sauber auf den Punkt gespielt, auf jede kleine Soundeskapade geachtet und filigran arrangiert. Vom Perfektionistischen Anspruch, kann man durch aus meine Superhelden von Steely Dan nennen. Ob das nun jedem gefällt oder nicht ist fraglich. Da Steely Dan ja auch gerne mal milde eine gewisse Form der strukturierten Langeweile nachgesagt wird. Was natürlich am Hörer selbst liegt, der die Hintergründe selten kennt und versteht. 

So auch bei Tortoise. Man kann einfach nicht ganz auf die Vitae der Band verzichten. Ebenso ist in den letzten 20 Jahren musikalisch zu viel passiert. Von dem natürlich nicht nur die Band selbst profitiert, sondern –versteht man dies als gegenseitige Bereicherung– sogar eine Notwendigkeit besteht, zu forschen, weshalb es auf einmal, wie aus dem Nichts solch aufregende Schallplatten gibt wie es eben dieses aktuelle Werk geworden ist.

Radikal ist vielleicht das Wort für die zahlreichen Stücke, die trotz komplexen Arrangements kompatibel, für Mensch sein können die andere Hörgewohnheiten haben. HOT COFFEE ist z. B. so eine Nummer, die einerseits durch entspannte groovende Atmosphäre überzeugt, dann mit dem Gitarrenriff des Jahres den eigentlichen Verlauf stört, aber trotzdem ehr an eine entspannte Chick Corea (ich darf das ja jetzt wieder) erinnert, als an einen nervenden Aphex Twins Track.  Als weitere Anspieltipps empfehle ich unbedingt das monumentale GESCEAP welches mühelos nach jeder MOTORPSYCHO Nummer gespielt werden kann, wenn entrückt getanzt werden soll und das wunderschöne aber total nichtprogrammatische YONDER BLUE mit der berauschenden Stimme von Georgia Hubley (Yo La Tengo).

Diese Platte könnte ein Meilenstein werden, weil sie sich viel zutraut, vieles retrospektiv vereint, aber auch mutig und klug, aber mit gebremster Experimentiergehabe prospektiv in die Zukunft blickt. Das TORTOISE tatsächlich Ihrer Zeit voraus sind, muss nicht erwähnt werden, das waren sie schon immer. 

Behalten Sie diese Platte in den nächsten Zeiten im Auge bzw. im Speicher. Sie wird wiederholt auftauchen.

Beim Optiker, danach beim Gesichtschirurgen 

Alan Lomax

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