Die unterschiedliche Wahrnehmung und Bewertung von Filmen - Ein offener Brief an Alan Lomax

von Rick Deckard  -  25. Mai 2016, 18:16  -  #Kommunikation

Lomax Cassidy & The Sundance Deckard

Lomax Cassidy & The Sundance Deckard

Lieber Alan Lomax!

So wie die beiden 'Hole in the Wall' Gangmitglieder sitzen wir gemeinsam auf einem Pferd und reiten in die gleiche cineastische Zukunft, nur die Blickrichtung ist nicht gleich. Vielleicht vermag das Foto den derzeit unterschiedlichen Stand in einem zusammenzufassen.

Ich empfinde die unterschiedliche Sichtweise von aktuellen Filmen als etwas positives und bereicherndes. Das Verständnis für den Blickwinkel des Anderen hilft den eigenen Standpunkt kritisch zu überprüfen und zu hinterfragen. So findet ein Abwägungsprozess statt und apodiktischen Aussagen wird Einhalt geboten.

Unterscheiden möchte ich die Begriffe "Wahrnehmung" und "Bewertung", weil ich glaube, dass die Vermischung zu keinem Ergebnis führt und der Diskussion nicht gerecht wird.

Zweifelsohne haben sich bei uns die Wertvorstellungen, die Lebenssituation, das gesellschaftliche Umfeld in dem wir uns bewegen verändert und ich glaube, dass das einen grossen Einfluss auf die Bewertung von Filmen hat, so wie vermutlich bei vielen Menschen.

In der Wahrnehmung, wenn wir Informationen aus Filmen beziehen, filtern wir bewusst und unbewusst.

Bei beiden Vorgängen, der Bewertung und der Wahrnehmung bestätigen wir das, was wir ohnehin schon wissen und bestätigt sehen wollen und blenden kategorisch das aus, was für uns nicht in Frage kommt, oder wir nicht bestätigt sehen wollen. Ich glaube die Psychologen bezeichnen das als Bestätigungsfehler, conformation bias.

Gerade deshalb empfinde ich es als in höchstem Maße spannend zu lesen und zu verfolgen, wie Sie einen Film wahrnehmen und bewerten, als auch andere Blogger. Dies aber nicht um sich und seine Besprechung im Sinne der Selbstdarstellung in Zeiten des Internet auf ein Podest zu hieven, sondern weil es kompliziert und anstrengend ist, die Meinung des/ der anderen nachzuvollziehen.

Es ist sehr schwierig seinen eigenen Standpunkt zu verlassen und den des anderen zwar nicht zu übernehmen, aber zu verstehen.

Akzeptanz und Toleranz sind in diesem Zusammenhang schwergewichtige, aber notwendige Stichworte.

Aber diese Mühe und der Aufwand lohnen sich, weil ich immer wieder (begeistert) lese und entdecke, was mir bei der Betrachtung eines Filmes entgangen ist. Ich bin dann überrascht, wo Sie z.B. bei Filmen den Schwerpunkt legen und wie Sie an die Bewertung neuer Filme herangehen.

Was ich jedoch als äusserst krass empfand und empfinde ist die Tatsache, wie sehr sich unsere Meinungen bei aktuellen Filmen unterscheiden. Das hat mich sehr überrascht, wie Sie vermutlich auch.

Einige Beispiele:

 

INTERSTELLAR

Ihre Bewertung:

http://www.lomax-deckard.de/2015/04/interstellar-christopher-nolan-ein-verriss.html

Meine Bewertung:

http://www.lomax-deckard.de/2015/05/interstellar-von-christopher-nolan-ein-meisterwerk.html

Der eine (Sie): "Ein Verriss!"

Der andere (ich): "Ein Meisterwerk!"

Gegensätzlicher kann eine Meinung nicht sein und das bei einem so talentierten und begnadeten Regisseur wie Christopher Nolan! Das ist das Faszinierende. Bei Hitchcock, Coppola, Lean und Leone war wir uns nie uneinig und wenn, dann hat es sich um Nuancen gehandelt.

BRIDGE OF SPIES

Ihre Bewertung:

http://www.lomax-deckard.de/2016/05/bridge-of-spies-steven-spielberg-5.html

Meine Bewertung:

http://www.lomax-deckard.de/2016/05/bridge-of-spies-steven-spielberg.html

Auch hier das gleiche Phänomen: Bei Steven Spielberg handelt es sich nicht um irgendeinen Regisseur!

GONE GIRL

Das ist vielleicht das krasseste Beispiel überhaupt. Und wieder ist der Regisseur kein unbekannter, kein geringerer als David Fincher!

Einen Vergleich kann ich Ihnen hier nicht anbieten, weil ich den Film vor längerer Zeit gesehen habe, unmittelbar nach Ihrer euphorischen Besprechung und ich nach der Betrachtung fassungslos war. Ich versuche mich zu erinnern: Nach Gone Girl war ich drauf und dran eine neue Kategorie unserem Blog hinzuzufügen: Quatsch-Filme! Gone Girl ist einer der unsinnigsten und arg konstruiertesten Filme, die ich je gesehen habe. Vorhersehbar, dramaturgisch eine Katastrophe und das Drehbuch Assoziationen an Pulp-Kino weckend. Häufiger habe ich Ihre Kritik gelesen, konnte aber keinen gemeinsamen Nenner finden. Bereits damals hatte ich eine Art Vorahnung, die sich in der Folge bestätigen sollte.

Das ist ein Phänomen, welches es zu ergründen gilt: Nolan, Spielberg und Fincher und vollkommen gegensätzliche Meinungen. Auf der einen Seite greife ich den Anfang des Briefes auf, auf der anderen Seite versuche ich nachzuvollziehen wo konkret in der Wahrnehmung und Bewertung der Dissens begraben liegt. Tue ich das aber, komme ich an die Grenzen der Möglichkeiten dieses Blogs und v.a. des Schrifttums. Eine Diskussion wäre vielleicht ertragreicher.

THE REVENANT

Bevor ich vor 2 Tagen den Film sah, las ich mit Spannung Ihre Besprechung und war nicht mehr verwundert. Ich respektierte sie, aber, und jetzt kommt es, die Konsequenzen der sich wiederholenden unterschiedlichen Auffassungen, ich nahm sie nicht mehr als Grundlage, als Basis meiner Sichtweise. Was ich vorher auch nie getan habe, zu verstehen ist das in diesem Sinne: Auf Ihre Meinung in Belangen der Kultur, insbesondere Kino, habe ich stets grossen Wert gelegt, das tue ich auch heute noch, jedoch, wenn Sie so wollen, findet hier eine gegenseitige cineastische Emanzipation statt und es bleibt mit Spannung abzuwarten, wohin diese Entkoppelung führen wird.

Bei der Musik hat der Dissens bereits vor Jahren bei uns stattgefunden, vermutlich entwickelt er sich gerade auch für das Kino.

Unabhängig hiervon bin ich bei einer Sache mehr als überzeugt: Ich vermute, dass die Situation in denen wir die Filme sehen, die unterschiedliche Wahrnehmung und Bewertung erklärt. Alles, was uns kurz zuvor und Tage vor der Betrachtung widerfahren ist, die Eindrücke, die Umgebung, unsere Stimmung spiegelt sich wieder in unseren Besprechungen. Was meinen Sie?

Da frage ich mich am Ende: Wie nahe kommen wir der Wahrheit wirklich und wie objektiv sind wir in unseren Kritiken?

Ein Gedanke ist mir zum Schluß noch gekommen: Wenn wir uns bei Hitchcock, Lean und Leone, Coppola, Wilder und Scorsese einig sind und bei Regisseuren der neuen Generation nicht, erlaubt das den logischen Rückschluss über die Qualität der "Neuen" und Ihrer Filme?

Es grüsst Sie aus Bolivien,

Ihr Freund & Mitstreiter

Rick Deckard

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